von Dr. Gunter Jess, Mitglied des Kreistages Vorpommern-Greifswald

Am 22.9.2014 stimmten drei Kreistagsmitglieder der AfD in Vorpommern Greifswald für Anträge der NPD (siehe Bericht unter afd-vg.de). Dies führte zu bemerkenswerten Pressereaktionen, u.a. auch im NDR-Fernsehen (ndr.de Nordmagazin). Darin wurde das Stimmverhalten der AfD-Mitglieder, ohne daß auf Inhalte eingegangen wird, mit Namensnennungen und Fotos mehr oder weniger massiv kritisiert. Unabhängig davon veranlassen mich die Erlebnisse im Zusammenhang mit diesem Ereignis zu grundsätzlichen Überlegungen zur Meinungsfreiheit in unserem Land.

Ja, wir haben Meinungsfreiheit in Deutschland und als ehemaliger DDR-Bürger weiß ich dieses Gut sehr zu schätzen. Auf der Basis unseres Grundgesetzes kann sich jeder politisch frei und öffentlich äußern – nicht zuletzt auch, weil es das Medium Internet technisch weiträumig gewährleistet. Unabhängig davon ist aber auch festzustellen, dass Personen mit abweichenden Auffassungen zur Deutungshoheit der sogenannten „Meinungsmacher“ aus Politik und Medien mehr oder weniger intensiven sozialen Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt werden. Dies reicht in Einzelfällen bis zur Gefährdung der materiellen bzw. gesellschaftlichen Existenz. Wenn auch die disziplinierende Wirkung auf Einzelne nicht selten erfolglos ist, so zeigen die öffentlichen Disziplinierungsmaßnahmen bemerkenswerter Weise den Effekt, dass der „Normalbürger“ offene Bekenntnisse zu politischen Fragen, wenn sie nicht dem „Mainstream“ entsprechen, möglichst vermeidet. Dies erinnert mich fatal an meine Erlebnisse und Erfahrungen aus DDR-Zeiten.

In diesem Zusammenhang ist m.E. die AfD als neue politische Kraft mit folgenden Phänomenen in der politischen Auseinandersetzung konfrontiert:

1. Öffentliche Tabuisierung/Zensur bestimmter politischer Themen (Volk, Asyl, Nation, nationales Eigeninteresse, EU-Kritik, Kritik an Euro u.s.w.)
2. Stigmatisierung bzw. Diskreditierung der Tabubrecher als Methode der sozialen Disziplinierung
3. Zunehmende Polarisierung und Radikalisierung politischer Überzeugungen,
4. Anarchistische Naivität als politische Handlungsmaxime politischer Gegner.

1. Tabuisierung politischer Themen

Zweifelsfrei steht Deutschland und die anderen Mitgliedländer der EU, aber insbesondere die Euro-Länder, in einer der größten Herausforderungen der Nachkriegsgeschichte. Die Ursachen dafür sind vielfältig, die wesentlichsten dürften aber folgende sein:
– Neugestaltung der politischen Entscheidungsstrukturen der EU mit Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten.
– Erweiterungsbestrebungen der EU, mit Auswirkungen auf die politischen Interessensphären anderer Großmächte und Krisenentwicklungen (Ukraine).
– Eine Einheitswährung (EURO), die vor allem auf ideologischen statt wirtschaftlichen Argumenten basiert, insbesondere bei Ländern extrem divergierender wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit.
– Kurzfristige Umstellung der Energieversorgung einer industriell geprägten Volkswirtschaft ohne hinreichende Planung.
– Asylansturm aus den Krisenherden in den Randregionen der EU auf die wirtschaftlich stabilsten Volkswirtschaften der EU, insbesondere Deutschland.
– Missbrauch des Asylrechts in Deutschland als indirekte Einwanderungsoption.

Die oben beschriebenen Herausforderungen sind Folge der realen Politik der letzten Jahrzehnte. Deshalb sind die bereits erkennbar sich entwickelnden Konfliktherde und Konfliktthemen auch die Verdeutlichung einer zumindest z.T. verfehlten Politik. Das Zurechtrücken dieser in Teilen verfehlten Politik scheint in der Regel nur durch eine neue, nicht doktrinäre Partei zu gelingen, die die internen etablierten Machtstrukturen der Altparteien kurzerhand umgeht und zu einer Bündelung alternativer politischer Kräfte führt. Dies scheint der AfD auf weitaus soliderer Grundlage zu gelingen als den „Piraten“ oder sonstigen Splitterparteien.

Da die AfD wesentliche Fragen zur EU, dem Euro und dem Asylrecht differenzierter und realitätsbezogener behandelt als die etablierten, vornehmlich ideologisch argumentierenden Mehrheitsparteien, versuchen letztere als erste Verteidigungslinie die inhaltliche Auseinandersetzung zu vermeiden und stattdessen die Stabilisierung eigener Positionen zu betreiben. Dazu werden eigene Positionen ideologisch überhöht und die gegensätzlichen Positionen versucht in die Nähe gesellschaftlicher Tabus zu drängen. Derartige gesellschaftliche Tabus sind z.B. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Nationalsozialistische Ideologie, Homophobie u.ä. Das Tabu verhindert die öffentliche Thematisierung ungeliebter, politischer Sachthemen, übt sozusagen eine Zensur aus und ersetzt die inhaltliche Auseinandersetzung durch eine Selbstbekundung und ideologische Appelle.

2. Stigmatisierung und Diskreditierung der Tabubrecher

Die Tabuisierung politischer Themen ist in der Praxis nahezu notwendigerweise mit der Stigmatisierung bzw. Diskreditierung der wirklichen bzw. angeblichen Tabubrecher verbunden. Für die Deutschen hat sich die Epoche des deutschen Nationalsozialismus als dauerhafte Quelle möglicher Stigmatisierung erwiesen (siehe z.B. Berichte über Proteste in Griechenland 2011). Dabei scheint es innerhalb Deutschlands sogar gelungen zu sein, die politischen Begriffe „rechts“ mit „Nationalsozialismus / Faschismus“ und „rechtsextrem“ mental zu koppeln, wohingegen dies bei „links“ „linksextrem“ und „Kommunismus/Stalinismus“ offenbar nicht der Fall zu sein scheint, was beides kaum verständlich ist.
Die Stigmatisierung eines wirklichen oder angeblichen Tabubrechers ist umso eher wirksam, wenn es der Repräsentantengruppe der Tabubewahrer gelingt, dem politischen Gegner die Sachebene abzusprechen und ihn anderweitig moralisch zu belasten. Tabubrecher werden auch gerne öffentlich namentlich benannt. Von der namentlichen Nennung einzelner verspricht man sich offenbar einen stärkeren Disziplinierungseffekt.

Die Stigmatisierung politischer Gegner ist eine häufige Spielart etablierter politischer „Platzhirsche“ gegen neue, aufstrebende Parteien. Stigmatisierung ist sozusagen die erste Verteidigungslinie etablierter Parteien, um Neue fernzuhalten. So ist es den Grünen in den Anfangsjahren ergangen – mehr oder weniger berechtigt. Auch der PDS erging es nicht anders nach 1990; sie reagierte mit einer Namensänderung und wurde „Die Linke“.

Die Bemühungen, die AfD zu stigmatisieren, laufen seit ihrer Gründung Anfang 2013. Offensichtlich erscheint es den Etablierten einfacher zu sein, eine Stigmatisierungs-kampagne zu führen als sich mit den Inhalten der neuen Partei auseinanderzu-setzen. Denn die Realitätsverweigerung der Etablierten in wichtigen politischen Fragen, hat ja gerade zur Bildung der neuen Partei AfD geführt.

Diese Grundhaltung der Tabuisierung und Stigmatisierung verdeutlicht auch der sogenannte „Schweriner Weg“ in Mecklenburg-Vorpommern, der die Stigmatisierung der NPD, ohne inhaltliche Auseinandersetzung, beinhaltet. Nun liegt mir nichts ferner als eine Lanze für unseren politischen Gegner, die NPD, zu brechen. Doch mussten wir im Kreistag Vorpommern Greifswald feststellen, dass jede politische Gruppierung (wie z.B. die AfD), die einer solchen, von den Etablierten vorgegebene, Stigmatisierungspolitik nicht folgen will, automatisch ebenfalls unter das vorgegebene Stigma gesetzt wird.

Letztlich hat die Stigmatisierung eines politischen Gegners bisher selten zum gewünschten Erfolg geführt. Ganz im Gegenteil; sie bewirkt höchstens:
– eine Verstärkung der Polarisierung, ggf. bis zur Feindschaft zwischen den Vertretern der jeweiligen Pole,
– die Ausbildung einer Burgmentalität, gerade bei NPD-Wählern (in M-V immerhin ca. 7% der Wähler).

Zudem wirft sie grundsätzliche Fragen auf:
– Wieso glauben die „Meinungsmacher“ eigentlich, dass die Wähler lediglich „Meinungslemminge“ sind, die sich nicht selbst ein Urteil bilden könnten?
– Ist den Wählern wirklich zuzumuten, dass in Kommunalparlamenten Sachfragen hinter ideologische Fragen zurückgestellt werden?
– Ist nicht das „im Gespräch bleiben“ mit politisch gegensätzlichen Positionen für ein friedliches Zusammenleben in unserem Lande eine Grundvoraussetzung, auch und
insbesondere auf der kommunalen Ebene?
– Sollten sich allerdings die Gegensätze als unüberbrückbar erweisen und politische Positionen außerhalb unserer Verfassung stehen, so ist ein Verbot der betroffenen politischen
Gruppierung umzusetzen. Sind die Voraussetzungen dafür nicht gegeben, so bleibt der politische Gegner ein Mitspieler, ob man will oder nicht!

3. Polarisierung und Radikalisierung

Die politische Landschaft in Deutschland scheint derzeit, nach einer Periode der relativen politischen Eintracht, auf eine Periode zunehmender Polarisierung zuzugehen. Dies betrifft sowohl die soziale Polarisierung der Bevölkerung als auch damit eng verbunden, eine Polarisierung der politischen Haltungen. Letzteres muß dabei an sich noch nicht einmal als Problem angesehen werden, wenn darunter lediglich die ausgeprägtere Formulierung politischer Positionen zu verstehen ist. Als zunehmend problematisch erscheint dagegen die damit z.T. verbundene Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung. Dies zeigt sich z.B. in den regelmäßigen Konflikten der öffentlichen Ordnungskräfte mit vermummten Gegendemonstranten, Hausbesetzern, Blockadeaktivisten jeglicher Art oder auch radikalisierten Sportfans. Selbst bei einer öffentlichen Informationsveranstaltung der AfD erlebte ich, dass Besucher der Veranstaltung durch eine ungenehmigte Demo von schwarz Vermummten vor dem Eingangsbereich abgeschreckt wurden.

Das Gespräch mit und zwischen diesen Vertretern radikalisierter politischer Gruppen erscheint kaum noch möglich und wird auch regelmäßig durch gegenseitige Provokationen zusätzlich unmöglich gemacht.

Unabhängig davon halte ich die Gesprächsbereitschaft zwischen allen politischen Mitspielern, insbesondere in der Lokalpolitik, für eine Grundvoraussetzung nachhaltiger politischer Lebensgestaltung. Alles andere führt in zunehmende Feindschaft und Destruktion, deren unbestimmte Risiken dann auch auszuhalten sind.

4. Anarchistische Naivität als politische Handlungsmaxime politischer Gegner

Neben den radikalisierten Gruppen und Aktionen in der politischen Auseinander-setzung, die häufig bis zu strafrechtlichen Konsequenzen führen, gibt es zunehmend Aktionen des „Zivilen Ungehorsams“, bei denen auf „sanfte Art“ bewusst gegen geltendes Recht oder sonstige Normen verstoßen wird, um eigene gruppen-spezifische, politische Ziele durchzusetzen. Dazu mögen Hausbesetzungen, Sitzblockaden, „Kirchenasyl“ ,die sogenannte „Clownarmee“ u.a. zählen, solange sie halt „sanft“ bleiben. Letztendlich wird durch diese Aktionen mehr oder weniger intensiv der Rechtsstaat in Teilbereichen in Frage gestellt und in seiner Wirksamkeit ausgehölt. Die demokratischen, parlamentarischen Prinzipien werden durch eine Außerparlamentarische Opposition in Frage gestellt. Die Nähe zu anarchistischen Gesellschaftsvorstellungen und Zielen ist kaum zu übersehen.

Allerdings! Welcher Politiker hat schon etwas gegen „klare und sanfte“ Hinweise auf existierende Missstände und wer will schon so verknöchert sein, um nicht intelligente, neue Argumente zu bedenken? Doch haben die demokratischen Spielregeln zu gelten und zwar für alle gleichermaßen!

Wie können die Mitglieder der AfD auf die oben beschriebenen Herausforderungen reagieren?

Die AfD ist mit dem Slogan „Mut zur Wahrheit“ zur Wahl angetreten. Dies macht deutlich, dass gerade Themen bzw. Sichtweisen angesprochen werden sollen, die etablierte Parteien nur zu gern aus dem öffentlichen Diskurs heraushalten würden. Tabubrüche durch die AfD sind damit nicht zu vermeiden. Die oben beschriebenen Versuche zur Stigmatisierung und Diskreditierung der AfD sind somit logische Konsequenz.

Dies ist schlichtweg auszuhalten und den jeweiligen Angriffen ist auf der positiv emotionalen und der Sachebene intelligent zu begegnen. Innere Verhärtung und eigene Radikalisierung in der politischen Auseinandersetzung sind keine Optionen für Mitglieder der AfD!

Es wird zukünftig wesentlich darauf ankommen, ob es gelingt, den Wählern das eigenständige, unverwechselbare Profil der AfD so deutlich zu machen, daß ihre programmatischen Ansätze als sachorientierte Tabubrecher erkannt werden und gleichzeitig die Versuche der Stigmatisierung und Diskreditierung ins Leere laufen.

So ist z.B. deutlich zu machen, dass:
– Kritik an der Politik der derzeitigen Einwanderungspraxis durch Missbrauch des Asylrechts keine Fremdenfeindlichkeit ist, sondern das legitime Recht der deutschen Bürger, ihre
eigenen Interessen auf rechtsstaatlicher Grundlage zu vertreten,
– Sachpolitik einer ideologisierten Politik vorzuziehen ist (z.B. in der Euro-Rettungspolitik),
– Tabuisierung politischer Themen keine Lösungsoption sind,
– im deutschen Parteienspektrum zugelassene politische Kräfte ernst genommen und als politische Gegner nach rechtsstaatlichen Prinzipien behandelt werden,
– auch eigenen Überzeugungen entgegenstehende Meinungen ausgehalten werden müssen und lediglich politisch inhaltlich und durch legale Aktionen zu bekämpfen sind
(rechtsstaatliche Koexistenz),
– mit allen politischen Kräfte das Gespräch gesucht werden muß, um die Friedlichkeit der politischen Auseinandersetzung nachhaltig aufrecht zu erhalten (rechtsstaatliche
Koexistenz).