Von Dr. Gunter Jess, Mitglied des Kreistages Vorpommern-Greifswald.

Wer markige Worte und klare, fertige Feindbilder benannt haben will, dem sei gleich zu Beginn gesagt, nicht weiterlesen! Wenden Sie sich Autoren zu, die diese Bedürfnisse bedienen. Mir geht es um mehr, nämlich den Versuch die  Ursachen einer unheilvollen Entwicklung in unserem Land, der EU und der Welt auszumachen. Sollten Sie sich aber auf meinen Gedankenexkurs einlassen, so hoffe ich, Sie nicht zu enttäuschen in Logik und Argumentationskette. Folgendes Grundsätzliche sei sinnbildlich vorausgeschickt: Wir betrachten einmal die derzeitigen gesellschaftlichen Krisen der Welt  als Ausdruck einer Krankheit und die Beziehungen zwischen den Konfliktparteien als den Patienten. Bleiben wir im Bild, dann ist die Voraussetzung jeder Therapie (Behandlung) eine fundierte Diagnose (Beschreibung; Ermittlung der Ursache). Ist die Diagnose falsch, so bleibt jeder Therapieversuch ein Herumdoktern an Symptomen, mit geringster Chance auf Heilung.

Islamischer Terrorismus: “moderne Kriegsform” der Ohnmächtigen gegen die Übermächtigen?

Der Terrorismus der letzten Jahrzehnte ist zu einer Bedrohung der zivilisierten Gesellschaften in der Welt geworden. Die Deutschen denken in dem Zusammenhang, nach dem Ende des RAF-Terrors, vor allem an die Morde des NSU. Traurige Höhepunkte waren jedoch die Flugzeuganschläge vom 09.11.2001 in den USA, die Anschläge in England (07/2005), in Spanien (03/2004), Norwegen (07/2011) und nun in Paris. Über die Terrorattacken in Rußland, Afghanistan, Irak, Australien, Ägypten, Jordanien, Pakistan, Indien, den nordafrikanischen Ländern und anderen spricht man schon kaum noch. Weil man sich daran gewöhnt hat, weil man doch nichts ändern kann oder vielleicht auch weil es weit weg ist? Doch Paris ist nicht weit weg! Und die Mehrheit der Europäer ist schockiert. Viele Deutsche sind befremdet und mehr oder weniger verunsichert, wie unsere Regierung auf die offensichtliche, latente Bedrohung reagiert – und meines Erachtens zurecht!  Ich vermisse eine wirkliche Analyse der tieferen historischen und sozialen Ursachen.

Niemand wird ernsthaft leugnen, daß der Terrorismus islamistischen Ursprungs die Terrorszene seit Jahrzehnten dominiert. Doch wäre es falsch zu behaupten, daß nur der Islamismus Terror hervorgebracht hat; denken wir an die terrorgeprägten Auseinandersetzungen in Nordirland, im Baskenland oder an die vermutlichen Einzeltäter in Norwegen (07/2011) und in Deutschland (NSU). Doch Terror ist nicht gleich Terror! Anlässe und Ursachen für terroristische Aktivitäten sind vielfältig. Wenn man so will, ist jeder Mord, eine Terrorattacke gegen zivilisiertes Zusammenleben. Das Motivspektrum der Terroristen reicht von psychisch gestörten Einzeltätern, über kühl kalkulierende Enttäuschte, radikalisierte Außenseiter bis hin zu professionell agierenden großen Organisationen mit klaren politischen Zielen. Letztere sind die eigentliche Gefahr. Seit Jahrzehnten führt der extreme Islamismus einen regelrechten Terrorkrieg und zwar gegen alle, die sich seinen Zielen entgegenstellen. Die aktuellste Ausprägung ist die Terrorarmee des „Islamischen Staats“ („IS“) in Syrien und Irak. Dieser Terrorkrieg ist in der Regel kein klassischer Frontenkrieg von Staaten, sondern die „moderne Kriegsform“ bei ungleicher, das heißt disproportionaler Kräfteverteilung. Terror ist ein Krieg der Schwachen gegen übermächtige Gegner, ob wir es wahr haben wollen oder nicht!

Halten wir fest: Die sich selbst als zivilisiert benennende Welt des Westens ist mit einem Terrorkrieg islamistischer Bewegungen konfrontiert. Dieser Krieg wird außer vom „IS“ ohne klare Fronten gegen alles geführt, was Symbole der westlichen Lebensform und Kultur und Repräsentanten dieser Welt sind. Seine ideologische Basis sind politische und religiöse Ziele, die gegen Ziele, Kultur und Werte der westlichen Welt gerichtet sind – insofern kann man  sagen, es ist ein Kulturkampf.  Neben verschiedenen kleineren Schauplätzen in Afrika, fernöstlichen Staaten, Rußland und China besitzt der Kampf gegen den Hegemon der westlichen Welt, die USA, und seine Verbündeten (durchaus auch aus der arabischen Welt) die primäre Ausprägung. Die Gegner sind ideologisierte, politische Gruppierungen der arabischen Welt, derzeit ohne staatliche Zuordnung, gegebenenfalls vielleicht einem Panarabismus verpflichtet. An Geld mangelt es diesen Gruppen offensichtlich nicht, denn Öl und Opium sind scheinbar unversiegbare Finanzierungsquellen.

Zustand der “arabischen Welt” als Hauptursache des islamischen Terrorismus

Die entscheidende Frage eines Diagnoseversuchs ist die Frage nach der Ursache. Was treibt junge Männer und Frauen dazu, sich aus ihrem Lebensumfeld zu verabschieden, eine Parallelwelt zu entwickeln und ihr eigenes Leben gegen einen verhaßten, übermächtigen, hochgerüsteten Feind einzusetzen? All zu oft sind diese “verhaßten Feinde” unschuldige, unbeteiligte Zufallsopfer. Die Beantwortung dieser Frage ist ohne Analyse des aktuellen Zustandes der arabischen Welt kaum möglich. Literaturfreunden sei in diesem Zusammenhang das Buch von Peter Scholl-Latour „Der Fluch der bösen Tat“ (2014) empfohlen. Zahlreiche Staaten der arabischen Welt  versinken derzeit im Chaos. Seit Jahrzehnten sind kriegerische Auseinandersetzungen und Bürgerkriege an der Tagesordnung (Israel, Iran/Irak, Irak/Kuwait, USA/Irak, USA/Afghanistan, Ägypten, Libanon, Libyen u.s.w.).

Innere und äußere Ursachen:

Die Ursachen dieser Konflikte liegen zweifellos zunächst in den inneren Widersprüchen der arabischen Welt selbst. Hier denkt man beispielhaft an die große Kluft zwischen reichen und armen Ländern, die inneren sozialen Spannungen, die traditionellen Lebensformen oder auch die Herausforderungen der säkularen westlichen Welt auf die weitgehend religiös bestimmte islamisch-religiöse arabische Welt. Nicht zu vergessen, die historische Demütigung der Araber durch die scheinbar überlegene, dominierende westliche Welt. Letzteres verweist darauf, daß es neben diesen inneren Konfliktpotentialen auch zahlreiche Konfliktursachen gibt, die auf den Einfluß der westlichen Staaten zurückgehen, insbesondere aus der Kolonialzeit der Briten und Franzosen, aber auch der politischen und militärischen Aktivitäten der USA und ihrer Verbündeten in jüngster Zeit. Als Stichworte seien die westlich dominierten Staatsgründungen, der Zionismus, der Irakkrieg, der Krieg in Afghanistan, die Auseinandersetzung der USA mit dem Iran und manch andere Einflußnahmen auf die wichtigen Erdöl exportierenden Länder durch die westlichen Repräsentanten genannt – ohne diese hier zu bewerten.

Viele Araber, insbesondere die Meinungsmacher des Islamismus, sehen offenbar in den Aktivitäten des Westens (historisch und aktuell) die wesentlichen Ursachen des katastrophalen Zustandes der arabischen Welt. In dieser Frage erscheinen sie, trotz interner Feindschaften, erstaunlich solidarisch. Auch hier empfehle ich nochmals die Lektüre des Buches von P. Scholl-Latour.  Wer jedoch erfahren möchte, wie Araber sich selbst und die westliche Welt sehen, der wird arabische Autoren lesen müssen. Interessierten seien zum Beispiel die Werke und Aufsätze des Marokkaners Mohamed Aziz Lahbabi empfohlen. Aus diesen wird deutlich, welch tiefe Verunsicherung die arabische Welt durch den Westen erfahren hat. Lahbabi entwirft eine „Philosophie im Interesse der Dritten Welt“ und eine Vision der kulturellen Emanzipation. Die eurozentristischen-superioristischen Leitideen des Westens stellen aus seiner Sicht letztlich nur einen neuen, einen kulturellen Kolonialismus dar. Seine Idee ist, die arabisch-muslimische Kultur zu rehabilitieren und ihre Beiträge zu einer universalen Zivilisation zu diskutieren. Doch der politische Westen mißt die arabische Welt an seinen eigenen verabsolutierten Maßstäben. Teile der arabischen Welt scheinen demgegenüber im Westen  eine untergehende, dekadente Kultur zu sehen, der zu folgen nicht ratsam ist. Auch hier vermisst man einen ehrlichen, kritischen Dialog.

Massenmigration als Symptom:

Die Massenflucht aus afrikanischen und arabischen Ländern in die Länder Europas ist zum einen offensichtliche Folge des dort bestehenden politischen und wirtschaftlichen Chaos, zum anderen aber auch eine Spätfolge verfehlter kolonialer Politik. Die Versuchungen und Heilsversprechungen der westlichen Zivilisation mit ihrer Ausprägung auf Wohlstand, Individualismus, Hedonismus, Materialismus und weitgehendem moralischem Relativismus werden bei vielen dieser Migranten zu Enttäuschungen und Desillusionierung führen. Locken wir sie nicht faktisch in eine Frustrationssituation? Da relativiert sich manches Gutmenschentum? Hilfe zur Selbsthilfe – das wäre die richtige Antwort gewesen! Aber verlassen wir für heute dieses Thema. Es bedarf einer eigenen Abhandlung!

Diagnoseversuch

Wenn wir also neutral und ehrlich eine Diagnose für die gesellschaftliche Krankheit “islamistischer Terror” stellen wollen, so werden wir nicht umhin kommen, nach unserem Selbstverständnis im Umgang mit anderen Kulturen und deren internen Konfliktpotentialen zu fragen. Traurige Negativbeispiele für einen verfehlten Umgang mit anderen Kulturen aus dem 19. Jahrhundert sind die weitgehende Ausrottung und Verdrängung der Indianer in Amerika und der Aborigines in Australien beziehungsweise die komplette Ausrottung der Tasmanier durch die Europäer. Gut, der Vergleich hinkt gewaltig, denn den Arabern steht keine Verdrängung oder Ausrottung bevor. Trotzdem verdeutlichen die Beispiele teilweises Fehlverhalten der Vertreter der europäischen Zivilisation gegenüber der “Dritten Welt”. Dies Thema bedarf einer eigenen neutralen, wissenschaftlichen Betrachtung. Doch eines sollte klar sein, es gibt zwei gegensätzliche Handlungsmaximen im Umgang mit anderen Kulturen und mancherlei Übergangsspielarten:

1. den Weg des Verständnisses für die Andersartigkeit, der behutsamen Annäherung, der konstruktiven Kritik und des voneinander Lernens und

2. den Weg der Dominanz, verbunden mit einer Mißachtung der Andersartigkeit und einer Arroganz der Übermacht.

Der zweite Weg führt in der Regel zu Hass gegen die Dominanz. Der Spiegel Nr.4/2015 titelt im Zusammenhang mit den Pariser Terroranschlägen: “Der Terror der Verlierer”. Kann es aus Sicht potentieller Attentäter mehr Arroganz und Überheblichkeit geben?  Sind wir nicht alle die Verlierer eines Terrorkrieges? Ich vermute, daß manche der Lebens- und Wertvorstellungen der westlichen Welt von vielen Arabern eher als arrogante Überheblichkeit einer im Niedergang befindlichen Zivilisation angesehen und verstanden werden.

Integrationsversagen:

Die Politiker und Medien in Europa zeigen Unverständnis, daß gerade junge muslimische Männer mit französischer, englischer oder deutscher Staatsangehörigkeit radikalisiert und zu Terroristen werden. Das mag vielschichtige Gründe haben. Darf man sich aber nicht auch fragen, ob diese nicht maßlos enttäuscht sind vom zunehmenden Individualismus, Hedonismus und Materialismus in den westlichen Staaten. Sehnen sie sich nach einem Leben unter ihresgleichen in einem eigenen funktionierenden Staatssystem? Multikulti ist offensichtlich nicht jedermanns Ding.

Gibt es eine Therapie für den Patienten?

Damit ich nicht falsch verstanden werde; ich rede nicht einem Verständnis oder der Unterstützung terroristischer Aktivitäten das Wort. Ich weiß auch, daß meine Gedanken keine hinreichende Erklärung für den aktuellen Terrorkrieg sein können. Doch sollte es erlaubt sein, scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen eine eigene Diagnose entgegenzustellen.  Das mantrahafte Wiederholen der westlichen Wertvorstellungen als allein-selig-machende Lebensform für die zukünftige Welt ist sicher der falsche Weg. Es ist, wie Lahbabi sagt, nur eine weitere neue Form des Kolonialismus. Wir sollten also genau hinschauen, wo die wirklichen, tiefen Ursachen der diskutierten Probleme liegen.

Einer Diagnose, auch wenn es nur eine vorläufige ist, folgt die Therapieempfehlung! Sanfte Therapien stehen radikalen Operationen gegenüber. Nicht für jede Diagnose gibt es eine erfolgreiche Therapie. Doch haben wir eine andere Chance als unser Bestes zu versuchen? Noch katastrophalere Auswirkungen für unsere innere Sicherheit wird die weitere Einmischung der EU und der Nato in interne Bürgerkriege und Konflikte der arabischen Region haben, um Gruppen mit scheinbar westlicheren Wertvorstellungen zu unterstützen. Sinnvoll wäre demgegenüber das weltweite Verbot jeglicher Waffenlieferungen in die Konfliktregionen, aber da hat sich unsere Regierung ja bereits deutlich und anders positioniert.

Was könnte eine Therapie sein? Die Regierungen und Wähler der westlichen Staaten werden sich entscheiden müssen, ob sie auf Vernichtung des Gegners setzen, das betrifft dann nicht nur den Islamismus sondern auch die ihn unterstützenden arabischen Länder, oder ob sie moderates Verständnis für die besondere Geschichte der arabischen Länder aufbringen und eine innere eigenständige Entwicklung eigener Ausprägung zulassen wollen. Ich denke, die Ergebnisse der Kriege in Afghanistan und im Irak sollten deutlich gemacht haben, daß es nur eine vernünftige Alternative für uns geben kann, und das sollte die letztere sein.

Die derzeitige Politik der USA und ihrer Verbündeten birgt die Gefahr der Schaffung neuer Konfliktherde, auch innerhalb der europäischen Länder. Eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaften ist bereits unübersehbar. Doch „Biedermann“ steht da und schaut den „Brandstiftern“ zu!

Fazit

Außenpolitisch gilt es, die historischen und aktuellen Ursachen der Konflikte zwischen muslimisch-arabischer und westlicher Welt unvoreingenommen aufzudecken und abzustellen und eine Stabilisierung dieser arabischen Welt zu ermöglichen.

Innenpolitisch gilt es, Einwanderung gesetzlich klar zu regeln, ohne Tabus bestehende Integrationsprobleme von Einwanderern zu diskutieren und Bagatellisierungen entgegenzuwirken. Die erkennbare Polarisierung innerhalb des deutschen Volkes in wesentlichen Politikfragen mit existentiellen Auswirkungen für unser Volk ist durch eine Konsenspolitik zu verhindern.